Gnade macht blind!
Die Überschrift ist bewusst so provokativ formuliert. Gnade ist ein Begriff, der in seiner umfassenden Bedeutung allein Gott, dem Schöpfer und Erhalter des Universums, zugeschrieben werden kann. Gnade ist etwas Gutes und so ist es natürlich, dass wir uns dagegen streben, etwas Negatives damit zu verbinden.
Auf diesen Gedanken bin ich gestoßen worden, als ich im Propheten Jeremia las. An Israel kann sich kaum noch jemand erinnern und auch Jerusalem liegt bereits in Schutt und Asche. Das auserwählte Volk Gottes ist auf Grund ihrer Sündhaftigkeit und Ungehorsam von Gott verstoßen und in die Gefangenschaft nach Assyrien, bzw. Babel gegeben worden. Jeremia hat regelmäßig den „Rest“ in Jerusalem gewarnt, ist aber abgewiesen worden, sodass das Unvermeidliche eingetroffen ist. Die Stadt des Friedens ist zerstört. Männer, Frauen und Kinder haben hier einen grausamen Tod gefunden. Nur ein „Überrest“ hat sich – entgegen Gottes Gebot und Jeremias Warnung – nach Ägypten geschlagen und lebt nun dort.
Aber die Gesinnung des Volkes hat sich angesichts des Gerichtes Gottes nicht verändert. Es ist verwunderlich, wie abgestumpft ihre Antwort auf Jeremias Warnen im 44. Kapitel wirkt. Ob wir eine ähnliche Verstockung unter uns feststellen werden oder sind wir auch schon blind?
„[...] wir wollen gewisslich alles das tun, was wir gelobt haben: Wir wollen der Himmelskönigin räuchern und ihr Trankopfer ausgießen, wie wir, unsere Väter, unsere Könige und unsere Fürsten es in den Städten Judas und auf den Straßen Jerusalems getan haben; damals hatten wir Brot in Fülle, und es ging uns gut, und wir erlebten kein Unheil!“
Jeremia 44,17
Irdische Segnungen können uns täuschen. Unter dem Alten Bund wurden Gottes Segnungen oft mit materiellen Gütern gleichgesetzt. Menschen die wohlhabend und gut situiert waren, galten als von Gott gesegnet. Dies ist auch oft der Fall gewesen, wenn wir Noah, Hiob, Abraham u.a. sehen. Doch es ist auffällig, dass im Neuen Bund dieser Zusammenhang, wenn überhaupt, nur sehr selten vorhanden ist. Die großen Vorbilder wie Petrus, Paulus, Barnabas oder Jakobus, der Bruder von Jesus, sind gesegnet Werkzeuge Gottes und doch lesen wir an keiner Stelle von ihrem materiellen Vermächtnis. Im Gegenteil. Es ist von Missgunst bei den Zuhörern, Verfolgung, Armut und Gefängnis die Rede! Dies verwundert uns nicht, da Jesu Prophezeiung sich bereits mit der ersten Gemeinde erfüllte:
„Gedenkt an das Wort, das ich zu euch gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen; haben sie auf mein Wort [argwöhnisch] achtgehabt, so werden sie auch auf das eure [argwöhnisch] achthaben.“
Johannes 15,20
Dieser Gedanke scheint uns heute äußerst unpassend, da unser Leben – zumindest in Deutschland – mehr als nur angenehm ist. Doch lassen wir uns nicht irreleiten, dass wir den materiellen Segen in Zusammenhang mit der geistlichen Situation bringen. Hier liegt, wie wir bereits beim gefallenen Volk Gottes gesehen haben, eine große Gefahr! Wer hinter dem materiellen Wohlstand der westlichen Welt, Gottes Bestätigung für unser geistliches Erbe zieht, liegt falsch. Gott bestätigt seinen Willen denen, die ihn aufrichtig suchen und rüstet den materiell aus, der dies für sein Werk einsetzen soll.
Solange wir irdische Segnungen als Resultat unseres geistlichen Zustandes verstehen, wird uns Gottes Gnade blenden:
„Darum wird ihnen Gott eine wirksame Kraft der Verführung senden, sodass sie der Lüge glauben, damit alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt haben, sondern Wohlgefallen hatten an der Ungerechtigkeit.
2. Thessalonicher 2,11-12
Wenige Verse nach den Worten des Volkes an Jeremia antwortet Gott ungewöhnlich hart dem „Überrest“, dem doch so oft, so viel Gutes vorbehalten bleibt:
„Darum hört das Wort des HERRN, ihr Juden alle, die ihr im Land Ägypten wohnt: Siehe, ich habe bei meinem großen Namen geschworen, spricht der HERR, dass mein Name nie mehr durch den Mund irgendeines Mannes aus Juda im ganzen Land Ägypten genannt werden soll, sodass einer spräche: So wahr GOTT, der Herr, lebt! Siehe, ich werde über sie wachen zum Unheil und nicht zum Guten, und alle Männer von Juda im Land Ägypten sollen durch Schwert und Hunger aufgerieben werden, bis sie vernichtet sind.“
Jeremia 44,26-27
Zu viele Christen und christliche Gemeinden und Organisationen sind unglaublich aktiv und mit sich selbst beschäftigt, obwohl wir dringend ruhig werden müssten, um Gottes Wort aus dem Mund seiner wenigen Propheten zu hören und umzukehren von unserem selbstsüchtigen und egozentrischen Wandel. Nur durch eine bewusste Umkehr eines jeden persönlich, kann Gott wieder Raum in uns finden, wo er sich verherrlichen kann.
„Es wird zwar ein zählbares Häuflein, [...] ins Land Juda zurückkehren; aber der ganze Überrest von Juda, [...], wird erfahren, wessen Wort sich bestätigen wird, das meine oder das ihre!
Jeremia 44,28
Lassen wir uns nicht durch unseren Wohlstand täuschen, sondern ein jeder prüfe sich selbst, ob er in einer lebendigen Beziehung zu Gott steht und voller Sehnsucht nach einem Leben als „zählbares Häuflein“ in seiner Nähe ist!
„Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“
Viktor Wiens, Bielefeld